Daniele Dell’Agli über „Alle Lust will Ewigkeit“ von Konrad Paul Liessmann
Konrad Paul Liessmann ist dafür bekannt, sich gern in aktuelle Debatten einzumischen und unbequeme Positionsbestimmungen wider den Zeitgeist nicht zu scheuen. Ihm verdanken wir unter anderem die scharfsinnigste Abrechnung mit jener doppelten Zerstörung unseres Bildungssystems, die unter den Decknamen „Pisa“ und „Bologna“ und zur Schande dieser altehrwürdigen Universitätsstädte in die Geschichte eingegangen ist (Theorie der Unbildung, 2006).
Nun hat der Wiener Professor für Philosophie den coronabedingten Hausarrest samt Arretierung eines Teils der universitären Verpflichtungen genutzt, um sich in Nietzsches vielzitiertes und mehrfach, unter anderem von Gustav Mahler vertontes Gedicht aus Also sprach Zarathustra „Oh Mensch! Gieb Acht!“, auch bekannt als Mitternachtslied zu vertiefen, dessen Zeile „Doch alle Lust will Ewigkeit“ zum geflügelten Wort wurde und dem Buch als Titel dient. Jedem Vers hat der Autor ein Kapitel gewidmet, jedes Wort mit Überlegungen bedacht, die weit über das in philologischen Interpretationen Übliche hinausgehen.
Was Liessmann auf über 300 Seiten vorführt, ist eine wahre Lust am Inter-, Sub- und Paratext, eine Feier des ebenso gelehrten wie scharsinnigen Assoziierens, das in jedem Molekül von Nietzsches Gedicht – vom „Oh“ des Anfangs bis zum „Zwölf“ des Endes – zweieinhalb Jahrtausende sedimentierter Literatur-, Geistes- und Mentalitätsgeschichte schürft und in ständig wechselnden Perspektiven den ganzen neoheidnischen Kosmos jener subversiven Aufmischung der großen Themen abendländischer Selbstverständigung konfiguriert, für die der Name Nietzsches steht.
Dem Sog von Liessmanns unerschöpflicher Assoziationsfreude folgend gibt man gern der Versuchung nach, selbst sattsam bekannte Passagen aus Nietzsches Werken wieder zu lesen. Zwar ist Liessmanns obsessives Close Reading des Mitternachtslieds keine Einführung in Nietzsches Werk, das es in der suggerierten Einheit und Geschlossenheit dieses Begriffs ohnehin nicht gibt, doch auf jeden Fall macht es mit den wichtigsten Motiven von Also sprach Zarathustra auf eine Weise vertraut, die über das nach wie vor unausgeschöpfte Potential ihrer Aktualisierung staunen lässt.
Das wirkt manchmal etwas forciert, etwa wenn ihn das mitternächtliche Selbstgespräch – „Was spricht die tiefe Mitternacht?“ – zunächst noch plausibel, wenn auch nicht zwingend, zu Zarathustras Frage nach den „Herren der Erde“ führt, um dessen Verfasser sodann umstandslos zum „Vordenker des Anthropozän“ zu küren. Doch wenn die dritte Zeile („Ich schlief, ich schlief“) den Autor zu einer veritablen Anthropologie des Schlafs im Dialog mit Freud und Günter Anders inspiriert, wird man überrascht von der entlang von Zarathustra-Aphorismen vorbereiteten Antwort (die nicht verraten werden soll) auf die Frage, was denn ein guter Schlaf mit dem (Un-)Sinn des Lebens zu tun hat. Die Exkurse zur anschließenden vierten Verszeile („Aus tiefem Traum bin ich erwacht“) wiederum bieten eine philosophische Traumtheorie, wie man sie so konzis und facettenreich auf zwanzig Seiten nicht nur in der Nietzsche-Literatur vergeblich sucht. Und so lässt Liessmann auch die anderen polaren Kategorien: Welt und Mensch, Lust und Schmerz, Tag und Nacht, die helle und die dunkle Seite unserer Existenz durch das Infrarotlicht von Nietzsches mitternächtlichen Denkens in ihrer ganzen schillernden Ambivalenz aufleuchten, denn nicht der Tag, „die Nacht ist der Ort der tiefen Erkenntnis“. Zum Beispiel jener, dass Glück und Unglück zusammengehören wie Tag und Nacht und die mimosenhaft-narzisstische Unglücksvermeidung unserer Achtsamkeitskulte zum Scheitern verurteilt ist. Überhaupt kann man dieses Buch genauso gut als eine durch Nietzsches gnadenlose Hellsichtigkeit geschärfte philosophische Zeitdiagnose lesen und so die kleine Ewigkeit dieser Lektüre noch lange in sich nachhallen lassen.
Konrad Paul Liessmann, Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen. Zsolnay 2021, 317 S., 26 Euro.
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