Thomas Bündgen über „Die Diplomatenallee“ von Annette Wieners.
Annette Wieners widmet sich in ihrem neuesten Roman „Die Diplomatenallee“ zwei Themen, die weitestgehend aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden sind, das eine zu Recht, das andere bedauerlicherweise.
Die Graphologie spielt in diesem Roman eine große Rolle, jene psychodiagnostische Methode, von der man in Deutschland – zumindest in den 1950er und 60er Jahren – wahre Wunderdinge im Rückschluss von der Handschrift auf den Charakter einer Person erwartete, und die heute als diagnostische Methode nur noch ein Nischendasein fristet, weil sich ihre Ergebnisse nicht validieren ließen.
Das andere große Thema dieses Buches ist die Spionagetätigkeit, die durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR auf dem Gebiet der Bundesrepublik ausgeübt wurde. Man weiß heute, dass die DDR wahrscheinlich Tausende von informellen Mitarbeitern und sonstigen Spionen in allen wichtigen Bereichen der Bundesrepublik installiert hatte, von denen bis heute nur wenige enttarnt worden sind. Als Beispiel sei hier nur einmal der frühere Vorsitzende des VS Deutschland, Bernt Engelmann, genannt, der lange Zeit für die Stasi als IM tätig gewesen sein soll und zum Beispiel gegen die NATO agitiert hat.
Anhand der Stichworte der Person des Historikers Hubertus Knabe und der Rosenholz-Dateien sei hier nur weiterer Forschungsbedarf genannt.
Diese beiden Themen der Graphologie und der Spionage der Stasi in der Bundesrepublik werden in der gut recherchierten und sprachlich der Zeit angepassten Geschichte geschickt miteinander verknüpft, die im Umfeld der Eröffnung der ständigen Vertretung der DDR im Jahr 1974 in Bonn spielt. Das Buch changiert zwischen den Genres der Spionagegeschichte und des Entwicklungsromans. Für einen Thriller ist es allerdings leider nicht aktionsgeladen genug, und für einen Entwicklungsroman wirken die Figuren zu konstruiert.
Wenn es den Leserinnen und Lesern nicht gelingt, die Hauptprotagonistin – eine Ladenbesitzerin und Hausfrau mit zwei Kindern und Graphologiestudium – als Identifikationsfigur zu nutzen, ist die Lektüre des Buches mühsam.
Das liegt vor allem – zumindest für den Rezensenten – an dem zu intensiv eingesetzten Stilmittel des inneren Monologs, in dem unzählige Fragesätze aneinander gereiht werden um den Ängsten, der Unsicherheit und den Sorgen der Hauptfiguren Ausdruck zu geben. Dieses Stilmittel füllt leider den Raum der Imagination der Leserinnen und Leser weitest-gehend aus. Es wäre diesem Buch zusätzlich besser bekommen, wenn es auch für männliche Leser eine Identifikationsfigur geben würde (Ehemann Peter und Professor Buttermann taugen dazu wahrlich nicht) und wenn es sich stärker (nicht vollständig) an dem Genre des Thrillers orientiert hätte.
Annette Wieners: Die Diplomatenallee. Blanvalet 2022, 448 Seiten, 22 Euro
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