Daniele Dell’Agli über „Die Fallen des Multikulturalismus“ von Cinzia Sciuto
Cinzia Sciuto hat sich als Journalistin und Redakteurin der italienischen Zeitschrift Micromega einen Ruf als Kämpferin für Laizismus, Bürgerrechte und feministische Anliegen erworben, der sie unverdächtig macht, mit einer Kritik am Multikulturalismus rassistische Ressentiments zu bedienen. Umso provozierender mutet daher ihre Streitschrift gegen eine falsch verstandene Toleranz all denen in linken und liberalen Kreisen an, die seit nunmehr zwei Jahrzehnten eine peinliche Virtuosität an den Tag legen, ihren progressiven Markenkern, nämlich die Kritik an Religionen wie an jeder dogmatisch behaupteten Autorität immer dann zu verleugnen, wenn diese im Gewande kultureller Eigenheiten von Migranten auftreten.
Sciuto erinnert daran, dass in einer säkularen Gesellschaft die Individualrechte von Personen nicht durch die partikulare Ethik religiöser Gemeinschaften, sondern einzig durch die rechtsstaatliche Verfassung auf der Basis eines universalistischen Wertesystems definiert und garantiert werden. In fünf Kapiteln erläutert sie zunächst die Prinzipien des Laizismus, seine Gefährdungen durch ein neues Erstarken der Religionen sowie die Konfliktlinien mit einem orthodox – im Sinne der Scharia – ausgelegten Islam. In den anschließenden Kapiteln ihres durchweg verständlich geschriebenen Buches entwickelt die Autorin einen Begriff prismatischer Identität, den sie gegen die identitätspolitisch verkürzten Ansprüche von Minderheiten (einschließlich des radikalen Feminismus) ebenso stark macht wie gegen dessen komplementäre Vereinnahmung durch den Multikulturalismus, der mit seiner Relativierung der Gültigkeit individueller Selbstbestimmung genau jene Segmentierung der Gesellschaft in voneinander abgetrennten Gemeinschaften betreibt, die er angeblich aufheben möchte. Identitäres Denken und kulturalistische Toleranz, so Sciutos zentrale These, sind im Grunde nur zwei Seiten derselben Medaille.
Das Buch schließt mit dem Plädoyer für ein „Projekt universaler Emanzipation“, dessen Ziel es sein muss „Traditionen und Kulturen den universalen Werten von individueller Autonomie und Freiheit unterzuordnen.“ Dass die Autorin für solches Engagement in bester Tradition einer Aufklärung ohne Scheuklappen von der Kritik als besonders mutig gefeiert wird, sagt vieles über den Zustand einer europaweit linksliberal dominierten und gesinnungsethisch gegängelten Debattenkultur aus. Und unterstreicht die Notwendigkeit dieses Buches zur rechten Zeit.
Cinzia Sciuto: Die Fallen des Multikulturalismus. Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft, Rotpunktverlag Zürich 2020, 24 €
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