Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“, besprochen von Jürgen Röhling
Nie, schreibt Thomas Mann, habe ihn ein Buch so „erregt und bewegt“ wie der „Doktor Faustus“ – lange hat er mit dem umfangreichen Stoff gerungen; das Ergebnis verlangt den Lesern einiges ab. Der Anspruch ist hoch: Faust-Stoff und zweiter Weltkrieg werden parallel geführt und mit Gesellschaftsgeschichte und Musiktheorie verbunden. Das Ergebnis ist einer der großen Romane der deutschen Literatur, der auch heute eine (Wieder-)Lektüre lohnt.
Jugendpläne von Münchner Gesellschaftsromanen namens „Maja“ und „Die Geliebten“ finden mit ihrem Personal und dessen Liebeslust und -leid Eingang in den Faust-Roman. Da ist der verheerende Weltkrieg, den Thomas Mann im kalifornischen Exil verfolgte, bangend um das Schicksal der ganzen Welt. Und da ist der ebenfalls alte Plan eines Romans um einen Künstler, der seine Genialität mit einem Teufelsbund erkauft. Dazu kommt die Zwölftonmusik, die der Autor seinen Helden, den Komponisten Adrian Leverkühn, erfinden und in einer Reihe genialer Werke verwirklichen lässt. Der Teufelsbund folgt nicht Goethes Vorbild, dessen Humanismus angesichts der Grausamkeiten der Zeit nicht statthalten könnte, sondern dem alten Volksbuch, das Faust zur Hölle fahren lässt, verbunden mit dem Schicksal Friedrich Nietzsches, der in den Wahnsinn abtauchte und die letzten Jahre als leblose Hülle in Weimar verbrachte. Bevor es mit Leverkühn so weit kommt, revolutioniert er die Welt der Musik – und er verfällt der Liebe, zunächst zu einer Prostituierten, die ihn – analog zu Nietzsche – mit der tödlichen Syphillis infiziert, dann zu dem Geiger Rudolf Schwertfeger, dem Leverkühn erst seine Kunst und dann seine Gunst schenkt, und der dran glauben muss, da der Teufel auch die Liebe untersagt hat, so dass selbst die scheinbar so unschuldige letzte Zuneigung des Komponisten zu seinem entzückenden, fünfjährigen Neffen Echo tödlich endet. Vorbild dafür war Thomas Manns Lieblingsenkel Frido, der an dieser literarischen Ermordung schwer zu tragen hatte. Überhaupt taugte fast alles, was greifbar war und thematisch passte, zum Romanstoff. Für die Zwölftonmusik benutzte Thomas Mann Arnold Schönbergs Theorie und musiktheoretische Schriften von Theodor W. Adorno, wie er später etwas widerwillig bekannte, mit dem selbstbewussten Statement: Wenn ich es in meinen Roman aufnehme, dann ist es ein Text von mir – auch wenn es ein anderer geschrieben hat.
Und die Wurzelbehandlung? Thomas Mann litt zeitlebens an den Zähnen. Zeitweilig saß er jeden zweiten Tag beim Zahnarzt. Und auch das wird zur Literatur! Denn die Wurzelbehandlung sei doch nur die Konservierung des Althergebrachten, in der Musik: ewige Romantik, die einen toten Zahn erhält, statt sich weiterzuentwickeln. Das Neue kommt nur durchs Reißen! Das ist aber, vor dem Hintergrund der zwanziger und frühen dreißiger Jahre in Deutschland und dem aufkommenden Nationalsozialismus, eine deutliche Metapher für die kommende Barbarei, der Rückschritt zum „Reißbader“, der keine bürgerliche Verfeinerung mehr kennen will und mit Brutalität „das Neue“ durchsetzen will.
Besonders gespannt war der Autor auf die Rezeption des 1947 erschienenen Buches im Nachkriegsdeutschland. Das Befürchtete trat ein, Vertreter der „Inneren Emigration“ warfen ihm vor, dass Deutschland darin zu schlecht weggekommen sei. Die abwägende Abrechnung mit dem deutschen Irrweg der Nazizeit war schon zu viel für die in Deutschland gebliebenen Autoren. So kommt dem ohnehin schon vielschichtigen Roman eine weitere Ebene zu, die des deutschen Umgangs mit der unrühmlichen Geschichte. „Doktor Faustus“ bleibt ein überaus lesens- und nachdenkenswertes Buch, auch und gerade als Wieder-Lektüre.
Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Fischer Taschenbuch 2012 (in der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe), 741 Seiten, 18 Euro
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