Andreas Maiers Roman „Die Familie“, besprochen von Jürgen Röhling
Wenn man lange genug sucht, lernt man irgendwann sogar die eigene Familie kennen. Diese Erfahrung macht Andreas Maier im siebten Roman seines Zyklus „Ortsumgehungen“. In den vorangegangen Bänden ging es in immer größeren Bewegungen um „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, es folgte „Der Ort“, „Der Kreis“, schließlich „Die Universität“. Der Horizont des vom Kleinkind zum Studenten heranwachsenenden Erzählers wurde so in wachsenden Ringen abgebildet. Um die Familie ging es in all diesen Büchern auch immer, aber erst jetzt wird sie zum titelgebenden Thema – und erlebt ihre gründliche Zerstörung. Jedenfalls die Zerstörung des lange aufrechterhaltenen, idyllischen Familienbildes. Das Roman-Ich (der Autor Andreas Maier bemüht keine Fiktionalisierungen, so dass man von einem Zusammenfallen beider ausgehen kann) erlebt eine witzig und genau geschilderte 70-Jahre-Kindheit in der Wetterau, in der zunächst die größte Katastrophe das allmähliche Verlorengehen des älteren Bruders ist, der sich aus der konservativen Familie – alle wählen traditionellerweise CDU – löst und immer öfter in einem autonomen Jugendzentrum verschwindet, dem „Kinderplaneten“. Herrlich komisch wird es, wenn die Eltern im Mercedes dort vorfahren und mit dem sandalentragenden, langhaarigen „Hasch-Hugo“ über Fragen von Erziehung und Freiheit diskutieren, letzten Endes natürlich vergeblich. Nach dem Kontrollverlust über das Leben des Sohnes (auch auch das Verhältnis zur Tochter ist denkbar schlecht) versuchen die Eltern wenigstens zuhause das Heft in der Hand zu behalten. Mit dubiosen Methoden, so rollt eines Tages ein Bagger heran und zerstört die denkmalgeschützte alte Mühle nebenan. Dass die Eltern, die das zunächst rätselhafte Geschehen hinter dem Fenster versteckt beobachten, wenig Gutes damit zu tun haben, ist nicht zu leugnen. Aber erst Jahre später erfährt der Erzähler, was da alles nicht stimmt, dass das Familienanwesen gar kein alter Familienbesitz ist, sondern erst durch die Enteignung des jüdischen Vorbesitzers dazu wurde, und dass die ganze Familiengeschichte der Ehrbarkeit und Rechtschaffenheit auf Lüge und Schlimmerem basiert.
„Die Familie“ ist ein Buch, das man nicht aus der Hand legt. Maier kommt von scheinbar harmlosen, mit Humor und Genauigkeit geschilderten Anekdoten zu Reflexionen über die Möglichkeit, die eigene Geschichte zu erkennen, und der Roman kommt zu einem furiosen Finale. „Es ist eiskalt hier“, so endet das Buch. Davor geht es aber heiß zur Sache.
Andreas Maier, Die Familie. Roman. Berlin, Suhrkamp Verlag 2019. 168 Seiten. 20 €
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