Sandra Gugićs großer Familienroman „Zorn und Stille“, besprochen von Martin Piekar
Ob sich Billy an ihr Kaninchen erinnern würde, fragte ihre Mutter am Telefon und sagte dann, „Vater ist tot“. Billy Bana ist Photographin, sie lebt als Nomadin, mal hier mal da, hat Ausstellungen mal da und ihre Familie in Wien zurückgelassen.
„Zorn und Stille“ – ist ein Roman von Sandra Gugić über die Familienverhältnisse im Zeit- & Weltgeschehen. Während der Jugoslawienkrieg tobt, leben die Banadinovićs in Wien und Biljana reift zur trotzigen Teenagerin gegen ihre Eltern und zum Helden für ihren kleinen Bruder Jonas Neven heran. Sie verlässt die Familie, kommt bei Hausbesetzern unter, macht ihren Schulabschluss und wird dann eine Photographin, die die Welt bereist.
Die ganze Familie leidet unter dem Verschwinden der Tochter, sie wollen es nicht zugeben, aber sie distanzieren sich durch den Verlust voneinander. Die Sprache, die Sandra Gugić dafür wählt ist phänomenal. Sie schafft es komplexe Emotionen an Handlungen und Gedankengängen aufzuweisen und dabei kommen Seltsamkeiten und unterschwelliger Humor nicht zu kurz. Die Sprache transportiert für mich die Emotionalität und die gedankliche Welt der Figuren herausragend gut.
Der Jugoslawienkrieg, Y2K, der 11. September ziehen vorbei und dazwischen geschieht das individuelle Leben der Figuren – nicht das große Ganze bestimmt, aber das große Ganze ist das, was nebenher geschieht, wenn Leben geschehen. Die Autorin zeigt nicht die Bedeutung dieser historischen Ereignisse auf, sondern lässt die Figuren währenddessen ihren Lebenswegen nachgehen (ganz ehrlich, so ging es mir auch, das finde ich sehr nachvollziehbar).
Jonas Neven möchte irgendwann die neuen Balkanstaaten bereisen. Er weiß, dass seine Eltern daherkommen und möchte es selbst erleben. Bei einem Wiedersehen mit Billy schlägt er vor, zusammen zu fahren. Die Schwester ermutigt ihn jedoch allein zu reisen, so wie sie es tut. Auf dieser Reise verschwindet Jonas Neven spurlos.
Der Tod des Vaters und das Verschwinden des Bruders lassen die Mutter, die immer alles entscheiden wollte – und sich ganz allein für die zwei Kinder entschieden hatte – und die Tochter, die sich gegen die Familie entschieden hatte, wieder aufeinandertreffen ohne versöhnlich zu sein. Es ist keine Geschichte mit Happy End, weil man nicht weiß, wie die Geschichte endet. Aber man erfährt, wie die Geschichte von statten ging. Dass der Vater immer träumte, die Welt zu bereisen und in Wien als Gastarbeiter strandete. Dass die Vergangenheit etwas ist, von dem sich alle Charaktere zu einem großen Teil lösen wollten, doch der einzige, der in ihr suchen ging, Jonas Neven, auch dabei verloren ging. Es ist kein Plädoyer für Zukunft oder Vergangenheit. Es ist ein Plädoyer für die Geschichte; die Geschichte, die wir selbst wählen und werden; aus der wir kommen.
Ein unfassbar dichtes, schnelles und auch personenstarkes Buch. Ich habe immer noch das Gefühl, zu wenig gesagt zu haben. Sehr, sehr gerne gelesen.
Sandra Gugić: „Zorn und Stille“, Hoffmann und Campe 2020, 240 S., 24 Euro
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