Daniele Dell’Agli bespricht „Irdischer Durst“ von Annie Carson
Seit Jahren wird die kanadische Dichterin Anne Carson im angelsächsischen Feuilleton als Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt und das – möchte man boshaft hinzufügen – trotz der herausragenden Qualität ihrer Werke, die bereits zu einem beachtlichen Teil ins Deutsche übertragen wurden. Die Bücher dieser Autorin werden zwar allgemein dem Genre der Lyrik zugeordnet, doch in Wahrheit handelt es sich um hybride Texte, die hochverdichtet zwischen Lyrik, Prosa, Drama und Essay changieren, wobei die Gattungsgrenzen oft als Bruchlinien durch die einzelnen Stücke verlaufen, wenn etwa die Autorin einen Dialog verschiedener Stimmen inszeniert, die ihren eigenen Schöpfungsprozess zugleich unterbrechen, kommentieren und offen halten.
Mit ihrem komplexen, zugleich polyphonen und elliptischen, immer wieder gezielt, wendungsreich und überraschend mit Leerstellen und Auslassungen arbeitenden Stil gehört Anne Carson zu den weltweit wenigen ihrer Zunft, die heute noch die große Tradition der Moderne fortschreiben. Von Kafka zum Beispiel hat sie sich für Kurzformen mit Rätselcharakter und surrealistischer Parabolik inspirieren lassen (die „short talks“ von Teil II). Als Professorin für Altphilologie ist sie andererseits wie Hölderlin von der sprunghaften Prosodie der frühesten Dichtungen des Abendlandes fasziniert und von den Möglichkeiten, in der Evokation des „Damals“ das „Jetzt“ fremd aufblitzen zu lassen. So im ersten Teil des vorliegenden Bandes, gewidmet dem altgriechischen Elegiker Mimnermos, wo sie auf lyrische Meditationen einen Essay folgen lässt, der in imaginären Kurzinterviews die Zeiten gleichsam äonenübergreifend kurzschließt.
Es versteht sich, dass solch eine elaborierte Schreibweise besondere Herausforderungen an die Übersetzung stellt. Umso wichtiger wäre es gewesen, dem deutschen Text das Original an die Seite zu stellen. Das lässt sich kurz am Titel des Bandes demonstrieren: er ist der „kurzen Rede“ Über Mona Lisa entnommen. Dort ist von „mortal thirst“ die Rede, einem Durst, der wörtlich als todbringend oder sterblich charakterisiert wird. „Irdisch“ klingt demgegenüber zwar vieldeutig, ist aber bezogen auf Durst zunächst eine reine Tautologie, die obendrein das Verhängnisvolle von „mortal“ unterschlägt. Jede Entscheidung stellt mithin andere Weichen für die Interpretation, für ein Spiel, um nicht zu sagen ein Experiment, aus dem der Leser, dem man schon wegen des Interesses an dieser anspruchsvollen Dichtung die nötigen Englischkenntnisse unterstellen darf, ausgeschlossen bleibt.
Anne Carson: Irdischer Durst. Aus dem kanadischen Englisch von Marie Luise Knott. Matthes & Seitz Berlin, 120 Seiten, 20 €
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