Ingrid Rosenberg-Harbaum bespricht „Die Dame mit der bemalten Hand“ von Christine Wunnicke.
Auf Initiative des Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis entsandte im Jahr 1761 der König von Dänemark die erste große europäische Forschungs-Expedition nach Arabien. Von den sechs Teilnehmern überlebte allein Carsten Niebuhr (1733 – 1815) die Reise, deren Sinn und Zweck unter anderem darin lag, den Wahrheitsgehalt biblischer Texte empirisch zu überprüfen. Mit einem umfangreichen Fragenkatalog ihrer Professoren im Gepäck schickten die Wissenschaftler auf ihrem Weg in den Jemen aus Ägypten mehrere Mumien nach Kopenhagen, von wo aus 1781 eine nach Göttingen entsandt, mit modern anmutenden interdisziplinären Untersuchungen vermessen und im Academischen Museum ausgestellt wurde. Noch heute wird sie als Artefakt im anthropologischen Institut der Universität aufbewahrt.
In der Fiktion trifft der weise Sternenkundige und Astrolabienbauer Musa al-Lahuri mit seinem Diener Malik bei einem Zwangsaufenthalt wegen Flaute auf der Insel Gharapuri oder Elephanta vor der Küste von Mumbay auf das vom Wege abgekommene Vermessungsgenie der Orient-Expedition Carsten Niebuhr. Wenn auf der unwirtlichen Insel die griechisch-europäische Wissenschaft, einschließlich der rationalistischen und empiriebesessenen Göttinger Theologie, und die iranisch-indisch-arabische Wissenschaft der Astronomie, Mathematik und Geodäsie aufeinanderstoßen, spielt im Gegensatz Ost-West das Sternbild der Kassiopeia eine zentrale Rolle. Seit jeher haben Menschen versucht, sich auf der Erde zu orientieren und nutzten die Sterne zur Navigation. Aber jede Kultur liest etwas Anderes aus den Sternen heraus, weil sie sich dabei jedes Mal auch selbst am Nachthimmel wiederfindet. Nicht selten sich hochkomisch missverstehend sprechen die beiden praxiserprobten Wissenschaftler Arabisch miteinander, wobei der sich in vielen Sprachen bewanderte Perser unermüdlich dem Erzählen von Geschichten widmet, und der auf sein Fach spezialisierte Europäer der Aufklärung norddeutsch wortkarg Fragen stellt oder nachdenklich schweigt. Die zunehmend zugleich verständnislosen wie verständnisinnigen Dialoge zwischen Meister Musa und dem vom Fieber gebeutelten Niebuhr erweisen sich als lebensrettend und bringen Tiefe und Kurzweil in den Roman. Dabei sollte Niebuhrs Fazit „Wir glotzen alle in denselben Himmel“ nicht sein letztes Wort sein. Er veröffentlichte in drei Bänden 1772 bzw. 1774/78 einen ausführlichen Bericht seiner abenteuerlichen Reise, der in mehrere Sprachen übersetzt zu den bekanntesten Dokumenten der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts gehört. Mit historischen Fakten als Kettfäden webt Christine Wunnicke vielschichtig wunderbar schillernde Literatur, die mit viel Witz Wissenschaftsgeschichte poetisch erzählt und 2020 mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand. Berenberg, Berlin. 4. Auflage im September 2020. 165 Seiten, 22 Euro.
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